Form-Funktions-Veränderungen Teil 2
Medizinisches Denken basiert auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und tierärztlicher Erfahrung. In der Orthopädie sind die Prinzipien und Erkenntnisse der Biologie und der Mechanik von zentraler Bedeutung! Aus diesem Grund ist die Übertragung der physikalischen Gesetze der Mechanik auf Probleme der Orthopädie zurück zu führen! Somit lässt sich die Entstehung von Überlastungserscheinungen, Verschleissprozessen (degenerative Erkrankungen) und Deformationen gut mit bekannten Problemen aus der Technik vergleichen. Die Gelenke des Hundes, aber auch des Menschen, werden als Kugel- und Scharniergelenke bezeichnet, deren Belastung durchaus an technischen Gelenken gespiegelt werden kann. Fehlerhafte Konstruktionen müssen sich deshalb als Formstörungen dauerhaft auf die Funktion der Strukturen auswirken und erhalten bei der Beurteilung orthopädischer Erkrankungen ein besonderes Gewicht! Um hier meinen Lieblingsvergleich mit dem Auto darzustellen; falls der Motorblock, ein 8-Zylinder einen viereckigen Zylinder aufweist, läuft der Motor unregelmässig und der typische Motorensound geht verloren! Muss man als Tierarzt und Orthopäde eine Lahmheit eines Hundes beurteilen, ist es einerseits zwingend, dass das Bewegungsmuster des Hundes klar betrachtet und registriert wird. Mit den heutigen Mitteln der Videotechnik stellt dies absolut kein Problem dar. Das Aufnehmen des Bewegungsmusters ermöglicht den Verlaufsprozess zu dokumentieren, und damit den Erfolg der Therapie besser abschätzen zu können. Es kommt nicht selten vor, dass eine Lahmheit, vor allem wenn sie schon länger besteht, sich innerhalb einer Therapie, trotz Verbesserung ändert. In der Pferdemedizin nennt man dies „Überspringen“, wenn die Lahmheit auf dem vermeintlich kranken Bein besser wird, dafür eine andere Gliedmasse anschliessend ein Hinken zeigt. Zum anderen sind diagnostische Hilfsmittel wie Röntgen, stehende Röntgen, orthopädischer Ultraschall, oder notfalls auch CT und MRT unerlässlich, um die mechanische Belastung und Belastbarkeit der orthopädischen Strukturen zu beurteilen.
Die orthopädischen Gewebe des Hundes sind nicht nur einfach technische Strukturen, tote Materie. Sie sind lebendige Strukturen, die sehr anpassungsfähig sind. Dies zeigt sich regelmässig bei der orthopädischen Untersuchung eines Hundes. Immer wieder habe ich Hunde in der Untersuchung, die wohl erst seit ein paar Tagen oder zwei Wochen Symptome wie Hinken oder Entlastung aufweisen. Bei genauer Betrachtung fällt aber oft auf, dass auf der „erkrankten“ Seite die Muskulatur des betroffen Gelenkes schon deutlich zurück gebildet ist. Dies nennt man eine Atrophie. Somit kann man eine länger andauernde Entlastung des Gelenkes oder der Gliedmasse festhalten. Das ist ein deutlicher Hinweis, wie der Körper ein orthopädisches Problem zuerst kompensiert, was bedeutet, dass die restlichen (gesunden) Gliedmassen, die Funktion der Bewegung und der Statik mittragen! Der Laie registriert diese Bewegungsveränderung kaum, ein Orthopäde kann sie aber sehr schnell während der Bewegungsfreiheit erkennen! Das orthopädische System des Hundes ist demnach einer stetigen Anpassung und Veränderung der Biomechanik unterworfen.
Beispiel 1
Der unten vorgestellte Hund kam zu mir mit einem akuten Rücken. Der Patient wurde zwei Monate vorher von einem anderen Hund auf dem Feld heftig gerempelt. Seither zeigt er immer wieder einen hochgezogenen Rücken, hatte Mühe beim Springen und zog immer wieder das rechte Bein hoch! Er verweigerte den Sprung ins Auto und hat zusätzlich auch immer wieder aufgeschrien. Das Bewegungsmuster zeigt eine nach links gebogen Wirbelsäule und gegenläufig geknickte Hinterläufe. Der Rücken ist ebenfalls hochgezogen und der Bewegungsablauf eher breitbeinig. In der Sitzposition ist die linke Hintergliedmasse verlagert und asymmetrisch. In der Videosequenz nach der Behandlung ist die Sitzposition sofort symmetrisch und das Bewegungsmuster gleichmässig und flüssiger!
Dieses Beispiel führt uns vor Augen, wie wichtig die Biomechanik des Rückens für eine gleichmässige und schmerzfreie Bewegung ist. Liegt diese Grundvoraussetzung nicht vor, erfolgt eine kompensatorische Entlastung die sich in einem veränderten Bewegungsmuster, wie im folgenden Video zu sehen ist, niederschlägt!
Beispiel 2
In unserem zweiten Beispiel hat die veränderte Biomechanik Auswirkungen auf das Verhalten des Hundes. Durch den chronischen Schmerz zeigt der Hund ein deutliches Aggressionsverhalten! Der Hund weist eine verschobene Längsachse der Wirbelsäule, sowie eine veränderte Querachse auf. Allgemein wird deutlich, dass beim Hund eine starke Vorhand besteht, die Hinterhand eher schwach ist. Bei der Untersuchung war die Extension der Hinterhand schmerzhaft und wurde mit Abwehrbewegungen quittiert! Das Aggressionsverhalten äusserte sich darin, dass er gegenüber anderen Menschen oder Kindern eine tiefe Reizschwelle hatte und sofort schnappte. Dieses Verhalten hat sich durch die erfolgreiche Schmerztherapie sofort gebessert!
Achtung an dieser Stelle sei auf die Konditionierung hingewiesen. Eine Schmerztherapie genügt nicht um das erlernte Verteidigungsmuster „Angriff ist die beste Verteidigung“ zu löschen.
Weiterführende Informationen erhalten Sie auf unserem Video über Form-Funktions-Veränderungen
https://www.youtube.com/watch?v=pp3QYp6vVVU&feature=player_embedded